Sagenwelt der Talschaft Lauterbrunnen

Die Sagenwelt der Talschaft Lauterbrunnen

In vielen mythologischen Sammlungen der Schweiz wird immer wieder auf die Reichhaltigkeit der Sagenwelt in den Berggebieten, vor allem auf jene des Berner Oberlandes hingewiesen.

Auch die Talschaft Lauterbrunnen kann eine breite Palette von Erzählungen aus einer tiefgründigen Sagenwelt anbieten. Die mächtige Berg- und Wasserwelt hat die Talbevölkerung stets stark beeindruckt; man lebt nahe an dieser gewaltigen Natur, in enger Verbundenheit mit ihren Kräften und ihren Erscheinungen. Die Abgelegenheit des Bergtals hat nicht verhindert, dass Siedler aus verschiedenen Kulturräumen, zuerst Alemannen mit ihrer nordisch geprägten Mythologie und später, Walser aus dem Lötschental mit ihrem natur-religiösen Brauchtum, einen vielschichtigen Volksglauben entstehen liessen.

Die Lauterbrunner Sagen haben sich im Laufe der Zeit, durch Erzählgemeinschaften beim Abendsitz in der Nachbarschaft oder in der Alphütte, stets weiterentwickelt. Sagen sind auch Wandergut; durch Wanderknechte und -handwerker, durch Säumer und Händler wurden sie weiter angereichert.

Unsere Sagen wandeln sich bis heute und auch in der Zukunft weiter. Die Erzähler*innen werden sie auslegen und ausschmücken mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken, mit neuen Inhalten, die ihnen auch zugetragen werden. So bleiben die alten Geschichten zu allen Zeiten lebendig und wir werden immer wieder über wundersame Ereignisse in unserem Tal staunen können.

Die Sage des Monats

März 2024

Die Weissagung des ewigen Juden

(aus Hans Michels Kratten voll Lauterbrunner Sagen)

Der ewige Jude kommt auf seiner unsteten Wanderung über die weite Erde auch durch das Lauterbrunnental. Er berührt aber den weltabgeschiedenen Winkel nur in Zeitabständen von mehreren Jahrhunderten. Sein unruhvoller Weg führt ihn dem Wasserlauf entlang von Lauterbrunnen über Trachsellauinen auf den Tschingelpass, dann in das Gasterental. Am Steinberg oben stellte man ihm auf seiner letzten Reise das Essen auf den Hüttentotz. Er nahm es dankend an, sass aber nicht ab und verzehrte den Imbiss während stetem Auf- und Abgehen, denn er darf sich ja nur in der letzten Stunde des Tages ausruhen.

Er sagte zu den staunenden Älplern, dass der höchste Teil des Lauterbrunnentales, von Oberhorn bis Tschingelpass, als er das erste Mal kam, ein Rebberg gewesen sei. Das zweite Mal, da war es ein Schafberg und jetzt, da er das dritte Mal hinüberwandere, ein Gletscherberg.

Bevor er Abschied nahm, weissagte er, dass bei seinem nächsten Besuche die ganze enge Talmulde, von Sichellauinen bis hinaus nach Gündlischwand, durch Erdschlipf, Steinschlag und Bachschutt zum obern Rand angefüllt sein werde.

Illustration von annette&fred, Lauterbrunnen

Kommentar

verfasst von Martin Niedermann, professioneller Erzähler und Botschafter der Sagenwelt Lauterbrunnen

Allgemeines: Hans Michel führt die Sage im zweiten Teil seiner Sammlung auf, zu welchem er u.a. schreibt „… die in älteren Werken Erwähnung fanden, …“. Es handelt sich hier demnach um eine alte, weitverbreite Erzählung.

Michel präsentiert uns eine alte, weitverbreitete Sage, die bereits seit dem 13. Jahrhundert in Europa bekannt ist. In dieser Erzählung ist ein rastloser Wanderer unterwegs, der nicht sterben kann und der den Menschen vergangene oder zukünftige Ereignisse offenbart. Ähnliche Sagen sind auch im Berner Oberland und im Wallis verbreitet, sowie in Städten wie Paris und Hamburg.

Michel beschreibt die Begegnung mit dem ewigen Juden auf eine nüchterne Weise, indem er diese mystische Figur mit einfachen Worten in unsere Welt holt. Die Frage, ob der ewige Jude ein Geist oder ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, wird treffend beantwortet: „Er scheint ein Mensch zu sein, der jedoch erst in den letzten Stunden des Tages essen, trinken und ruhen kann.“

Ursprünglich wurde die Hauptfigur in älteren Versionen nicht immer als Jude bezeichnet, sondern trug Namen wie Cartaphilus, Buttadeo oder Juan Espera en Dios. Die Geschichte des ewigen Juden verbreitete sich im Laufe der Zeit in ganz Europa und wurde zu einer christlichen Legende. Leider wurde sie später auch für antisemitische Zwecke missbraucht, besonders während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Propagandafilm „Der ewige Jude“.

Es ist erfrischend, wie Michel die Geschichte des ewigen Juden auf eine sagenhafte Art und Weise neu erzählt. Die Sage zeigt, dass der Mensch mit den Veränderungen in der Natur umgehen kann und dass der Wandel zur Entwicklung gehört. Es regt zum Nachdenken an, wenn man bedenkt, dass die Zeit in der Sage hunderte von Jahren umfasst, aber der Jude dennoch blitzschnell unterwegs zu sein scheint.

Es ist interessant zu bemerken, dass die Geschichte ursprünglich heidnische Wurzeln hat, obwohl sie im späten Mittelalter als christliche Legende adaptiert wurde. Der Name Ahasver ist persischen Ursprungs und hat Verbindungen zum persischen König Xerxes aus dem Buch Esther. Die Verbindung des ewigen Wanderers mit dem Evangelisten Johannes oder dem Grafen von Saint Germain wirft weitere Fragen auf.

Die Sage vom ewigen Juden, die sich durch die schweizerischen Berge zieht, ist geprägt von naturhistorischen Veränderungen und religiöser Symbolik. Der antike, griechische Geschichtenschreiber, Strabo (wahrscheinlich 63 v. Chr. bis 23 n. Chr.), berichtet bereits von den gewaltigen Veränderungen, die in den Bergen stattgefunden haben.

Die Sage des ewigen Juden, der als Zeuge der Schöpfungsnatur auftritt, verleiht dem Geschehen eine poetische und religiöse Deutung. Die Idee, des ewigen Juden repräsentiert für einige das jüdische Volk als Verurteilte, die als Zeugnis ihres frevelhaften Handelns durch die Welt wandern müssen.

Die Legende entstand im Mittelalter, einer Zeit der Judenverfolgungen, und erzählt die Geschichte eines Schusters aus Jerusalem, der als ständiger Zeuge des Gottesmordes (der Kreuzigung von Jesus) umherzieht. Der Ursprung der Sage wird auf das 13. Jahrhundert datiert, basierend auf Aufzeichnungen des englischen Chronisten Mathias Paris (um 1200 bis 1259).

Der Mythus des ewigen Juden ist somit eine faszinierende Mischung aus Naturgeschichte, religiöser Symbolik und historischen Ereignissen, die bis heute die Fantasie der Menschen beflügelt.

Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen

Schon während seiner Zeit als Sekundarlehrer in Lauterbrunnen, 1913 – 1920, hat Hans Michel (1888 – 1957) Sagen-Geschichten in unserem Tal zusammenzutragen. Sein Forschergeist hat ihn angetrieben, unzählige Quellen zu finden, in Bibliotheken und in Schriften aller Art. Vor allem aber hat er sich die Erzählungen, die im tiefsten Inneren des Volksglaubens entstanden sind, angehört, bei Leuten in allen Talwinkeln, in den Dörfern, Weilern, Heimetli und Alphütten.

Daraus ist sein «Lauterbrunner Sagen-Chratten» entstanden, der weit über unsere Region hinaus bekannt wurde.

Das Sagenbuch wurde 1936 erstmals veröffentlicht, im Verlag Otto Schlaefli AG, Interlaken.

In seinem Vorwort erwähnt Hans Michel:

«Zum Teil bis in die heidnische Vorzeit zurückreichend, sind im Lauterbrunner-Sagenkreis die meisten mythologischen Entstehungsmotive enthalten, so der Geisterbannung und anderer magischer Künste, der Seelenwanderung, der unheildrohenden Vorzeichen, der Schlangen, Erdmännlein und Riesen. Die Leitmotive anderer sind die durch Sünde verlorene Blüemlisalp, Schreckgespenster, Poltergeister, Wetterzeichen, Drachen, verborgene Schätze, Hexen- und Teufelswerke. Da und dort treffen wir naturgeschichtliche, etymologische, besonders aber geschichtliche Anklänge.
Dem Grossteil liegt das sittlich-erzieherische Motiv zugrunde, das als Sage allgemeines Volksgut war, lange bevor die heilige Schrift es wurde, In diesen kindlich-unbefangenen Überlieferungen ist ein Fingerzeig, eine Mahnung oder Warnung enthalten.»

Geschichten aus Hans Michels «Sagen-Chratten»

Zwei beliebte und charakteristische Sagen aus unserer Talschaft, die auch heute noch gerne im Familienkreis oder in Erzählgemeinschaften weitergegeben werden. Eine davon sogar im urchigen Lauterbrunner Dialekt.

Die Illustrationen, die in allen Auflagen des Sagenbuchs publiziert wurden, stammen von der namhaften Malerin und Illustratorin, Erika von Kager (1890 – 1978), aus Zürich (später New York).

Die weisse Frau am Mattenbach

Vom hintern Grund ragen die Felsen des Schwarzmönchs lotrecht hoch in den Himmel empor. Morgenseits werden die Steilstürze durch etliche Fluhsätze unterbrochen. Über diese schwebt bei Schneeschmelze und Landregen silbern der Mattenbach nieder. Ist dies bei Föhnlage im Winter der Fall, dann sagen die Leute im Stechelberg: «Der Mattenbach rinnt zu Unzeiten, die weisse Frau wäscht ihr Geld.»

Alle hundert Jahre wird sie einmal hier gesehen, und sie wartet auf Erlösung durch ein Heilignacht- oder Froufastenkind (1). Aber sie wartet schon seit undenklichen Zeiten, denn das Dörflein ist gar klein, und so wenig Kindlein werden in einer von diesen Nächten geboren.
Es war einmal ein Winterabend, in den Hofstatten schliefen Baum und Strauch in herbiger Kälte. Alles war Stein und Bein gefroren; an den Felswänden oben hingen die erstarrten Wasserfälle wie blauweisse Vorhänge. Aber an den hohen Schneekämmen der Grenzkette, da wurde gewiss was angerichtet. Auf allen Gräten wirbelten im Ringeltanz Schneefahnen hoch; in der satten Bläue schwammen die langen Föhnfische so prall, dass man hätte drauf sitzen können. Richtig – schon zu vormittnächtlicher Stund ging der heisse Hexentanz los, der den Schnee von
den Bergen nahm. Krachende Eisbrüche prasselten über die Flühe herunter und erschreckten die nächtliche Stille.
In der frühesten Morgenfrühe, es war grad zwischen Tag und Nacht, die sinkende Mondscheibe stand übergross hinter der Gydisfluh, da waren die Bergbauern, mit den Milchbrenten am Rücken, schon auf dem Wege zu ihren dunkel in den Schnee geduckten Scheuerlein. Nachdem man die ganze Nacht das Eis von den Flühen hatte poltern hören, verwunderten sie sich nicht, dass der Mattenbach in gehörigem Schwall über die Sätze sprang. Einer von den Hirtern war ein Froufastenkind. Als er dem Vieh Futter gestossen, Wasser angeboten und die übrigen Stallarbeiten besorgt, da schloss er sorglich die Türe und sprach wie gewöhnlich vor dem Weggehen sein: «Walt Gott!» Er war kaum ein paar Stubenlängen vom Stalle weg, grad auf der Brücke, da sah er am untersten Mattenbachfall die weisse Frau in schneereinem, wallendem Gewande. Sie wusch in den rauschenden Wasserschleiern blinkendes Silber, eine Laubhutte voll. Er sah es so deutlich wie die Hand vor dem Gesicht. Jetzt winkte sie ihn heran, und als er wie ein Hölzerner stehen blieb, da rief sie: «Guter Mann, habt doch Erbarmen, erlöset meine arme Seel und nehmt als Entlöhnung all mein Geld!»
Dem Bauern, der ein armer Schlucker war und der es in der Hand hatte, der hablichste Mann zu werden, dem sass die schwarze Furcht im Nacken. Der Narr musste ein Zeichen tun, sprang ab vom getretenen Weg mit der vollen Milchbrente am Rücken über Stotz- und Schreithäge heimzu.
Und die weisse Frau muss nochmals hundert Jahre warten, bis der Mattenbach wieder einmal im Winter rinnt, der Rechte kommt und sie erlösen kann.

(1) Kind, zu Fronfasten geboren

Dr Schnyder von Isenfluoh

Z Zweilütschenen tüen diê Teler von Grindelwald un Luterbrunnen sî teilen. Plötzli hinder em Dörfli, linggs von der wyssen Lütschenen, gsehd mu en höiji Fluoh us en Tannstoldnen usa guggen. Obna druff ischt en scharpfi Chleippa (1) Wasen. Daruf heis vor Jahr und Tag ds Dörfli Isenfluoh buwen. Äs ischt nid grad gross, aber heimlich (2). Wen mu von Wengen anha gugged, gsehds grad us wien en Mutta (3). Drum isch «uf der Mutten».
Schynts heigs früejer da usi o Zwärgleni ghäben. En Isenfluohschyder hed en tolla Tschuppen Zwirggen (4) un e paar Meitscheni ghäben. Är ischt en guota Ätti gsyn, aber är hed glych di gröschti Müej (5) häben, syn Hushaltig dürhi zschlan. Von eim Stärnen zum andren hed är gschaffed uf Tod un Läben. Äs hed mu niê an Arbeit gfähld. Eis hed er schuuderhaft dringends z wärchen ghäben, aber mid dem beschten Willen hed er ses nid mögen gmachen. Am Morgen, wan er ischt in ds Näbeschtübli (6) chon, isch diê Alegi büessti, bögleti (7) in bürschteti, eifach fix und fertig uf em Tisch glägen. Är heds nid chönnen begryffen, wie das ischt zue un här gangen. Das ischt drnah mengischd (8) vorchon, das er am Aben mid dr Arbeit nit hed mögen gchon, wäg dessen isch schi am Morgen glych gmachti gsyn. Un due hed er gengen pässled, wär ihm dîe ganzi Wärcheta machi.
Plötzli hed er chönnen gmerken, dass da e paar Männdeni inha chon syn, sî sofort uf den Tisch uohi (9) gsetzt hein un a sin Schnurpfeta (10) syn. Stich fer Stich heis büesst (11) und s Glettysen gwärmed, gletted un bürschted un diê Alegelleni styf zämengleid un fertig gmacht.
Den hein se sî hääluf umhi gchutzt! (12) Dr Schnyder uf der Mutten hed darann diê gröschti Plessier ghäben un hed sî fascht hindersinned, wiên är denen chönni z danken chon. Är als Schnyder hed gmerkt, dass si sälber besser Hudla (13) nötig hätten. Sobald das er hed Trifti (14) uberchon, hed er etlichs Alegelli für si gmacht un hed ne si für ihra Unmuoss beizt (15).
Druf am Aben sys umhi chon, hein diê Zueversicht gsehn, hein naha gluegt, hein dr gröscht Erger uberchon, will sî syn gmerkt worden.
Von da an heis gwüss weder Stupf no Chritz meh gmacht un hein dem Schnyder uf dr Mutten für geng der Puggel gchehrd.
(1) grosses Stück
(2) heimelig
(3) Erdscholle
(4) grosser Haufen kleine Buben
(5) Mühe
(6) Nebenstübchen
(7) Anzug, genäht, gebügelt
(8) manchmal
(9) hinauf
(10) Näharbeit
(11) genäht
(12) hellauf wieder aus dem Staub gemacht
(13) Kleider
(14) Zeit und Gelegenheit
(15) hingelegt